- Autorin -
PETRA GUGEL
Leseprobe aus "Sirrah"
Als Sirrah den Teich erreichte, war eine der beiden Sonnen bereits untergegangen. Ihr Zwillingsstern glühte noch orangerot über dem Horizont, als wollte er sich mit seinem feurigen Schauspiel von dieser Welt verabschieden.
Trotz der abendlichen Kühle verspürte Sirrah keine Lust, zurückzugehen. Sie setzte sich auf den Steg und betrachtete die über der Wasseroberfläche tanzenden Mücken.
Plötzlich veränderte sich etwas. Sirrah spürte es mehr, als dass sie es hörte. Eine leichte Erschütterung der Holzplanken, ein kaum wahrnehmbares Schwanken der Bohlen. Sie drehte sich um.
Im Gegenlicht sah sie ihn nur schemenhaft. Trotzdem erkannte sie ihn sofort. Sirrahs Herz begann hektisch zu pochen. Doch in ihre euphorische Stimmung mischte sich die schmerzliche Gewissheit, dass auch diese Begegnung wieder mit einem Abschied enden würde.
„Hallo Sirrah!“, sagte Tihal.
Sirrah hob ihre Hand, um ihre Augen vor dem blendenden Licht zu schützen.
„Ich habe dich vermisst“, brachte sie mühsam heraus. Sie verwünschte sich für ihr Gestammel. Was hatte sie sich nicht alles an Geistreichem überlegt, das sie bei ihrem Wiedersehen sagen wollte. Doch in diesem Augenblick war ihr Hirn so leer wie das Vakuum des Weltalls.
Tihal schien es nicht zu bemerken. „Ich habe dich auch vermisst!“ Er setzte sich neben sie auf den Steg und nahm ihre Hand. „Du hast mir so sehr gefehlt, dass ich dachte, ich hätte ein Stück von mir verloren.“
Sirrah versuchte, ihren Verstand wieder in Gang zu bringen. „Warum bist du dann ohne ein Wort verschwunden?“
„Du weißt, warum.“
„Wegen dieser Typen, denen du zur Flucht verholfen hast?“
„Niemand sollte bestraft werden, weil er seine Meinung sagt!“
„Du hättest mir wenigstens eine Nachricht schicken können. Ich habe mir Sorgen gemacht!“
„Du hast ja keine Ahnung!“ Tihal seufzte. „Weißt du wie schwierig es ist, sich vor dem Sicherheitsdienst zu verbergen? Da kann man nicht einfach eine Nachricht schicken. Und Leute, denen man vertrauen kann, sind nicht leicht zu finden!“
„Mir kannst du vertrauen!“
„Das weiß ich. Sonst wäre ich nicht hier.“
Die zweite Sonne zog sich hinter den Horizont zurück und machte der Dämmerung Platz. Die Oberfläche des Teichs war so dunkel wie Tihals Augen. Sirrahs Verlangen nach einem Kuss wurde übermächtig. Sie zog Tihal hinunter auf die Holzplanken und ließ ihre Hände über seine warme Haut wandern.
Als er ihren Kuss erwiderte, spürte sie, dass sich etwas verändert hatte. Er war nicht mehr der gekränkte Junge, der von seiner Freundin sitzengelassen wurde, und sie nicht mehr das unsichere Mädchen mit dem schlechten Gewissen. Sie wusste, dass dieses bisschen gestohlene Zeit das Einzige war, was ihnen blieb. Diesen Moment wollte sie sich von niemandem verderben lassen. Die ganze Welt konnte ihr heute Abend gestohlen bleiben, die Raumflotte, die Rebellen und der Sicherheitsdienst.
Irgendwann später bemerkte Sirrah die Dunkelheit, die sie umgab. Das einzige Licht stammte von Myriaden von Leuchtkäfern, die über dem nächtlichen Teichufer schwebten.
„Ich habe schon beinahe vergessen, wie schön das aussieht“, flüsterte sie.
Tihal grinste. „Es ist Paarungszeit. Sie möchten ein Weibchen anlocken!“
„Wenn sie wüssten, wie viel Verdruss das Ganze nach sich zieht, wäre es hier schlagartig finster!“ Ein Hauch von Bitterkeit mischte sich in ihre Stimme.
Tihal strich ihr zärtlich über die Wange. „Da irrst du dich. Sie würden trotzdem leuchten!“
Er sah Sirrah an, als wollte er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einprägen. Sie ahnte, dass es Zeit wurde, Abschied zu nehmen.
„Willst du dich wirklich diesen Abtrünnigen in den Bergen anschließen?“, fragte Sirrah. „Früher oder später finden sie euch doch, und ihr landet alle im Gefängnis!“
„Irgendwann sind es zu viele zum Verhaften!“
„Glaub nicht, ich hätte kein Verständnis dafür“, sagte Sirrah. „Aber ich fürchte, ihr legt einen Brand, von dem niemand weiß, wie man ihn löscht!“
„Dann sag dem Frauenrat, er soll uns endlich geben, was uns zusteht!“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt!“ Sirrah zwang sich zu einem Lächeln. „Pass auf dich auf!“
„Du auf dich auch.“ Ein letzter Kuss, und Tihal verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Das Fehlen seiner Wärme machte Sirrah bewusst, wie kalt es inzwischen war. Fröstelnd knipste sie ihre Taschenlampe an und machte sich auf den Heimweg.
Als sie das Wohnhaus erreichte, waren sämtliche Lichter erloschen. Sirrah schlüpfte durch die Schiebetür ins Wohnzimmer und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf.
Plötzlich öffnete sich eine Tür. Grelles Licht überflutete den Gang, und Ravahs überraschtes Gesicht erschien im Türrahmen. „Was treibst du denn noch um diese Uhrzeit?“
Dasselbe könnte ich dich auch fragen, dachte Sirrah. Womöglich hatte Arneb mit seinem Verdacht, dass Ravah nur zum Spionieren hier war, doch Recht.
„Ich konnte nicht schlafen!“ Sirrah stieg die letzten Stufen hinauf und rieb sich die Augen. „Das muss die Aufregung sein. Schließlich werde ich bald auf die Raumstation versetzt!“
„Das kann ich dir nachfühlen“, sagte Ravah. „Soll ich dir eine Tasse Tee machen?“
„Mach dir keine Umstände“, sagte Sirrah höflich. „Die frische Luft hat mir gut getan. Wenn ich mir jetzt noch eine heiße Dusche gönne, werde ich schlafen wie ein Baby!“
„Dann wünsche ich dir eine gute Nacht!“
„Gleichfalls!“ Sirrah verdrückte sich ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie stellte sich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über ihre Haut rieseln. Versonnen sah sie zu, wie es ihr durch die Finger rann. Manche Dinge ließen sich einfach nicht festhalten.
Als Sirrah mit der Bahn zurück in die Hauptstadt fuhr, erschien ihr der Abschied von ihrer Familie wie ein Traum. Das wehmütige Gesicht ihres Vaters und die guten Wünsche ihrer Mutter verblassten hinter der Erinnerung an Tihal.
Nur ein Ereignis hatte Sirrah im Gedächtnis behalten. Da sie an ihrem Geburtstag bereits meilenweit von dieser Welt entfernt sein würde, hatte ihr Arneb ein vorzeitiges Geschenk gegeben.
„Du hast erwähnt, dass du nicht einmal ein Bild von ihm hast“, hatte er gesagt und ihr einen verschlossenen Umschlag gegeben. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Sirrah ihren Bruder mit ehrlicher Zuneigung umarmt.
Auf ihrer langen Fahrt hatte sie reichlich Zeit, das aus dem Gedächtnis gezeichnete Portrait Tihals zu betrachten. Seine dunklen Augen, sein schwarzes Haar und das schiefe Grinsen, das sie so an ihm liebte. Sirrah stellte fest, dass Arneb sehr talentiert war und dass er damit durchaus Erfolg hätte haben können. Dummerweise hatte er sich das falsche Geschlecht ausgesucht.